Wenn ich morgens in mein Arbeitszimmer gehe, ziehe ich die Vorhänge zu. Das ist meine erste Handlung an jedem Arbeitstag, egal, wie das Wetter draußen ist. Und da ich nun doch nicht in absoluter Dunkelheit schreiben kann, schalte ich eine Lampe an, die schräg hinter mir steht. Das Licht scheint so eher diffus auf die Tastatur meines Laptops, so wie ich es brauche, um die richtigen Tasten zu treffen. Klingt schräg?
Schräg ist es sicherlich auch. Meine Familie muss jedenfalls immer lachen, wenn mich mal einer von ihnen im Arbeitszimmer aufsucht. „Draußen ist es so schön und du sitzt hier im Dunkeln!“ Ja. Andere Autoren suchen sich ihr Arbeitszimmer nach dem Blick aus dem Fenster aus. Ich nach den Verdunkelungsmöglichkeiten. Warum? Wieso will ich keinen Blick auf grüne Wiesen, Bäume oder einen belebten Platz? Warum sage ich vor dem Schreiben jedesmal: „Vorhänge zu! Bleib draußen, Welt!“ Brauche ich als Autorin nicht die Reize, die Anregungen von außen? Den Vogel, der am Stamm der Eiche vor unserem Haus nach Insekten sucht? Den blauen/grauen/düsteren Himmel? Regentropfen an der Fensterscheibe?
Ich habe es versucht. Ich habe wirklich versucht, es so zu machen wie die meisten meiner Kollegen: Die Vorhänge offen zu lassen, beim Schreiben immer wieder den Kopf zu heben und dort draußen nach dem Wort zu suchen, das mir gerade fehlt. Oder der richtigen Stimmung. Oder der rettenden Idee für eine verzwickte Situation, in der sich meine Figuren gerade befinden.
Aber es funktioniert nicht. Überarbeiten, Korrekturlesen – alles wunderbar, das kann ich immer und überall. Aber schreiben? Nein. Sobald die Vorhänge offenbleiben, bin ich nicht mehr bei meiner Geschichte. Dann bin ich beim grauen Himmel, beim Eichhörnchen, das von Ast zu Ast springt, bei der Krähe auf dem gegenüberliegendem Dach, bei den Autos auf der Straße. Alles und jedes lenkt mich ab. Jeder visuelle Eindruck stupst mich mit spitzen Fingern an und will in mein Denken und Fühlen. Und natürlich in meine Geschichte. Wenn nicht in die, an der ich gerade arbeite, dann in die nächste. Oder vielleicht steckt da eine neue, eigene Geschichte hinter? Und ehe ich mich umgucken kann, sind meine Figuren beleidigt davongezogen.
Lange Zeit habe ich geglaubt, dass mit mir etwas nicht stimmt. Bin ich so wenig professionell in meinem Beruf, dass ich mich nicht am Riemen reißen, mich ganz auf meine Arbeit konzentrieren und immer und überall schreiben kann? Diese Frage hat mich lange beschäftigt. Immer mal wieder, wenn ich hörte, wie andere Autoren arbeiten. Umso glücklicher war ich, als ich schließlich eine Antwort bekam, völlig unerwartet und von niemand Geringerem als Pablo Picasso, den ich für seine Kunst, seine Energie und seine Leidenschaft aufrichtig bewundere.
Ich war mit meiner Freundin in einer Picasso-Ausstellung hier in Hamburg. Der Pinselstrich dieses Mannes offenbart, wie leidenschaftlich und gleichzeitig kontrolliert er gearbeitet hat. Wahnsinn! Ich hätte niederknien mögen. Zwischen all den wunderbaren Gemälden und Zeichnungen gab es auch eine ganze Reihe Fotos sowie Zitate von ihm, in großen Buchstaben auf die Wände gedruckt. Auf einem dieser Fotos war Picasso in seinem Atelier zu sehen: er saß vor der Staffelei in einem vollständig abgedunkelten und lediglich von einer Lampe hinter der Leinwand erleuchteten Raum. Und dazu gab es folgendes Zitat zu lesen:
„Es muss überall Dunkelheit sein, ausser auf der Leinwand; damit der Maler von seinem eigenen Werk hypnotisiert wird und fast wie in Trance malt. Er muss so tief in seiner eigenen inneren Welt bleiben, wenn er die Grenze überschreiten will, die seine Vernunft ihm aufzudrängen versucht.“ (Pablo Picasso, nach F. Gilot, 1964)
Ja. JA. JAAA!
Das ist es! So fühlt es sich für mich an, wenn ich in der Dunkelheit an meinem Laptop sitze. Dann gibt es nur noch Tastatur, Bildschirm und die Geschichte. Ich bin drin. Mitten zwischen den Buchstaben. Nicht da draußen bei den Vögeln, den Menschen, den Fahrzeugen. Sondern in meinen Figuren, in IHREN Gedanken, IHREM Erleben, IHREM Schicksal. Nur so funktioniert Schreiben für mich. Nur so.
Ich muss zugeben, ich war sehr erleichtert, dass ich mit diesem Spleen nicht allein bin. Und dass ich die Absolution auch noch von einem solchen Meister erhalten habe, ist die Kirsche auf dem Sahnehäubchen. Auch wenn ich niemals ein Picasso werde. 😉
Grüße aus dem dunklen Arbeitszimmer,
Yvonne.
PS: Das Foto ist nicht in meinem Arbeitszimmer aufgenommen worden. Wo ich es her habe, findet ihr hier.
Wie interessant, liebe Yvonne! Das wusste ich noch gar nicht!
Ich wiederum sitze direkt an einem großen Fenster mit Blick auf Wiesen, Felder und Wäldchen und freue mich wie Bolle, wenn ein Eichhörnchen im Baum vor meinem Fenster sitzt.
Ist es nicht spannend, wie unterschiedlich wir arbeiten, was wir dabei unbedingt brauchen bzw. nicht brauchen, um kreativ und produktiv sein zu können?
Liebe Grüße vom Schreibtisch am Fenster!
Liebe Susanne,
genau, wie unterschiedlich!
Anfangs dachte ich noch, es liegt an der Straße vor unserem Haus, dass ich mich bei offenen Vorhängen nicht konzentrieren kann. Bis ich in einem dänischen Ferienhaus mitten in den Dünen so lange nicht schreiben konnte, bis ich den Schreibtisch verschoben hatte – mit Blick auf die weiße Wand ging’s plötzlich. 😉
Liebe Grüße aus dem Dunkeln,
Yvonne.